21 Ağustos 2010 Cumartesi
Türkische Gegenwartskunst
Die Arterie der Zeitgenossen
In Istanbul hat ein Kunsthaus eröffnet, das türkischen Gegenwartskünstlern endlich den internationalen Rahmen gibt, der ihnen bisher fehlte. Die Auftaktausstellung „Starter“ ist eine Sensation.
Von Karen Krüger
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Ein Eigentor gegen das türkische Volk: „Freistoß” von Cengiz Tekin von 2005
07. August 2010 Mitten in Istanbul steht in diesen Tagen ein Panzer. Die Bewohner der Stadt reagieren belustigt auf ihn, vielleicht, weil Ungetüme wie er schon des Öfteren durch das Land und auch durch Istanbuls Straßen rollten. Der aber, der nun im Stadtteil Beyoglu steht, scheint ein friedliches Exemplar zu sein und ganz und gar nicht bereit für einen Verwüstungs-Feldzug: Er ist aus grasgrünem Plastik, was man jedoch erst aus der Nähe sieht, kein Spielzeug, sondern eine veritable Attrappe, hergestellt in China, um bei militärischen Übungen und Täuschungsmanövern an der Grenze zu dienen. In Istanbul hat man das Monstrum hinter eine Schaufensterscheibe verbannt.
Da steht es nun, bläht sich hydraulisch zu eindrucksvoller Größe auf, fällt wieder in sich zusammen, und das sieht so aus, als würde die Bestie gelangweilt seufzen. Über ihm an der Wand hängt ein digitales Nachrichtenband: „No news from . . .“ ist dort zu lesen und dann die Namen von 23 Städten auf der Welt, womit sich auch die Langeweile des Panzers erklärt, der natürlich trotzdem ein Symbol für Tod und Gewalt bleibt. Der Neonschriftzug „Die Freiheit ist um die Ecke“ erinnert lakonisch daran.
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Grasgrüne Kampfattrappe in friedlicher Mission: Mit Michael Sailstorfers Panzer „T 72” von 2007 erobert das neue Ausstellungszentrum „Arter” die Istanbuler Kunstwelt
Hauptschlagader für Zeitgenossen
Es ist ein starker, spannungsvoller Auftritt, mit dem das neu eröffnete Kunsthaus „Arter“ seine Besucher begrüßt: Michael Sailstorfers Panzer „T 72“ von 2007, Henning Christiansens Neonschriftzug von 2008 und Jaroslaw Kozlowskis „Rhetorical Figures II“ aus dem Jahr 2006 sind die ersten Stationen der Auftaktausstellung, deren Gewicht vor allem auf politischen Aussagen liegt. „Arter“ bedeutet auf Türkisch Arterie, und eine Hauptschlagader, ein pulsierender Kraftspender und eine Durchgangsschleuse mit weiterführenden Verästelungen will das Kunsthaus der Vehbi Koç Foundation auch sein: vor allem für zeitgenössische türkische Künstler, aber auch für jene aus dem Balkan und dem östlichen Mittelmeerraum.
Nur etwa ein Fünftel der insgesamt hundertsechzig gezeigten Arbeiten stammt aus dem Rest der Welt; darunter viele aus Deutschland, Frankreich und Nordeuropa. Über sie soll ein beständiger Dialog angeregt werden mit der internationalen Kunstszene, für den in der Türkei bisher ein institutionalisierter Rahmen fehlte. Einzig die Kunststiftung Platform Garanti und die Biennale Istanbul boten türkischen Kunstschaffenden in den vergangenen Jahren die Möglichkeit, sich innerhalb der internationalen Gegenwartskunst zu plazieren. Doch nicht nur in diesem Punkt will „Arter“ Abhilfe schaffen: Das Kunsthaus soll ein Ort sein, der mit wechselnden Ausstellungen Kunst sichtbar macht, ohne sie gleich zu kommerzialisieren. Denn auch dafür fehlen in Istanbul noch immer die geeigneten Orte; die Stadt zählt nur eine Handvoll Museen für moderne und zeitgenössische Kunst.
Sophie Calle neben Nam June Paik
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Schon der Standort des nun dafür ausgewählten Hauses - ein vierstöckiges, elegantes Art-déco-Gebäude an der Istiklal Caddesi 211, erbaut im Jahr 1910 und aufwendig restauriert - ist richtungweisend. Kein anderer Stadtteil am Bosporus ist so international wie Beyoglu; nirgendwo sonst gibt es so viele Künstlervereinigungen und Galerien, bietet sich der Austausch quasi auf dem Silbertablett an. Man ist hungrig nach zeitgenössischer Kunst in Istanbul, das mit seinem biederen Programm für das Kulturhauptstadtjahr 2010 viele seiner Bewohner bitter enttäuscht hat.
Schon jetzt kommen täglich Hunderte von Besuchern, um sich die Eröffnungsschau anzusehen - der Eintritt ist kostenlos, man möchte keine Einrichtung für die Elite sein. „Starter“ hat Kurator René Bloch diese erste Ausstellung genannt. Sie gibt einen eindrucksvollen Einblick in die Sammlung zeitgenössischer Kunst der Vehbi Koç Foundation, die hinter „Arter“ steht. Die etwas beengten Raumverhältnisse lassen zwar nur die Präsentation von kleineren Stücken der Sammlung zu. Diese jedoch haben es in sich. Da sind Arbeiten von Sophie Calle, Nam June Paik oder Konrad Lueg. Und da sind Objekte von Künstlern, die einem noch nicht geläufig sind, die man nun aber sicherlich nicht mehr so schnell vergisst.
Eigentor gegen das türkische Volk
In seinem Video „Foam“ fragt der im finnischen Exil lebende Iraker Adel Abidin nach der Wesensart der Fundamentalisten: Nach der Tradition, wie Friseurlehrlinge in Abidins Heimat ihr Handwerk lernen, bestreicht ein kleiner Junge einen schwarzen Luftballon fast zärtlich mit weißem Rasierschaum, so dass ein üppiger Vollbart entsteht, zieht dann mit einem Messer den Schaum vorsichtig von der empfindlichen Gummioberfläche ab. Beinahe ist es ihm gelungen, da knallt es, platzt der Luftballon und taucht den Friseurstuhl in blutrote Farbe. Ein neuer schwarzer Luftballon erscheint, ein anderer Junge macht sich ans Werk, wieder wird die Blase platzen, wieder ist der Stuhl am Ende blutrot und leer - es ist eine Endlosschleife aus messerscharfer vorsichtiger Annäherung und mutwilliger Selbstzerstörung. Anders kritisch mit ironischem Unterton sind die Arbeiten des kurdischen Künstlers Cengiz Tekin. Er stammt aus der Region Diyarbakir im Osten der Türkei, die immer wieder Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen zwischen der kurdischen Bevölkerung und dem türkischen Militär ist. Auf seiner Fotografie „Serbest Vurus / Free Kick“ hat er eine Familie - Eltern, Geschwister, Onkel, Tanten - zu einer Abwehrkette vor einem Fußballtor aufgebaut. Ein Spieler im türkischen Nationaltrikot ist gerade dabei, einen harten Schuss darauf abzugeben - mit ihrer Politik im Osten des Landes schießt die Regierung immer wieder Eigentore gegen das eigene Volk. Im eigenen Land bleibt auch der Türke Fikret Atay mit seiner Videoinstallation „Teorisyenler/Theorists“ von 2008. Mit versteckter Kamera filmte er in einer Koranschule Schüler beim Auswendiglernen von Suren: Barfuß und murmelnd laufen sie schnellen Schrittes in einem kleinen Raum ohne Fenster auf und ab. Es sieht aus, als tanzten hier Marionetten.
Sammelleidenschaft eines Industriellen
Kunstwerke, die von Musik inspiriert wurden, und was man aus Musikintrumenten alles machen kann präsentiert „Starter”. So etwa Carles Santos „Zerstörtes Klavier mit Foto” aus dem Jahr 2008
Kunstförderung ist in der Türkei vor allem die Angelegenheit von reichen Industriellen. Viele folgen dem Beispiel der Unternehmerfamilie Vehbi Koç, die Ende der sechziger Jahre die erste Stiftung ihrer Art in der Türkei gründete und seitdem Krankenhäuser, Schulen, Universitäten und andere Bildungseinrichtungen unterhält. Im Jahr 1980 eröffnete sie mit dem Sadberk-Hanim-Museum das erste Privatmuseum der Türkei, benannt nach der Gattin des Firmengründers, das in einem alten, direkt am Bosporus gelegenem osmanischen Holzhaus deren wunderbare Sammlung osmanischer Festtagskleider, archäologischer Artefakte und islamischer Ornamentik ausstellt. Mehmet Ömer Koç, der Enkel des Unternehmers, setzt die Sammelleidenschaft seiner Familie auf dem Feld der Gegenwartskunst fort: Innerhalb von dreieinhalb Jahren wurde die Kollektion der Stiftung aufgebaut. Sie umfasst derzeit etwa vierhundert Werke von hundert Künstlern, wobei einer der Schwerpunkte auf der Fluxus-Kunst von Ben Vautier, Nam June Paik, George Macunias und Joseph Beuys liegt. Der Kurator René Block, früher Gefährte und Förderer dieser Kunst, hat den Bestand mit aufgebaut und Stücke seiner eigenen Sammlung mit einfließen lassen; man begegnet einigen von ihnen im obersten Stockwerk der Schau: dem „Albumblatt“ von Jack Higgins aus dem Jahr 1982 oder der Musik-Installation „Mozart Mix“ von John Cage aus dem Jahr 1991.
In Berlin unterhält die Vehbi Koç Foundation mit „Tanas“ einen kleinen Kunstraum-Satelliten, der ein Vorposten für Istanbul sein soll und ausschließlich türkische Künstler ausstellt. Irgendwann einmal, vielleicht sogar schon in einigen Jahren, möchte Mehmet Ömer Koç in Istanbul ein Museum eröffnen, das er sich wie das Getty Museum in Los Angeles vorstellt. Damit will er der kommenden Generation dienen.
Starter. Kunsthaus Arter, Istanbul, bis 19. September. Der Katalog in türkischer und englischer Sprache kostet 15 Euro.
Text: F.A.Z.